2008-05-09 / Süddeutsche Zeitung / Wolfgang Schreiber
Eine ganze Welt
Angela Hewitt gelingt grandios Bachs Wohltemperiertes Klavier
Lebhaftigkeit, Klarheit, Schnelle, Wärme, subtile Schattierungen! – das wären, nach Angela Hewitt, die Forderungen an einen Klavierspieler, der sich der Musik Johann Sebastian Bachs verschreibt. Hewitt tut es und erfüllt den Anspruch auf markante Weise. Wie sie die 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers, Teil I, durchnimmt, durchknetet, perfekt in der Balance von Kontrolle, Emotionalität und Freiheit der Phantasie, es ist außerordentlich. Die Kanadierin gehört schon lange zu den herausragenden Pianistinnen unserer Zeit, den Weg nach München hat sie erst jetzt gefunden – unterwegs auf Welttournee mit beiden Teilen des Bach-Zyklus, der seinerseits eine ganze Welt umfasst.
Angela Hewitt, hochgewachsen elegante Dame auf dem Podium des Herkulessaals, beherrscht pianistisch wie philologisch ihr Handwerk souverän, triumphieren kann sie durch spekulativen Geist, spontane Spielfreude und größte musikalische Einbildungskraft. Die Vielfalt der Stücke ist es, die sich unter ihren Händen plastisch entfaltet, und so scheint es, als hätte man den Reichtum an Formen und Empfindungen darin noch nie so intensiv vernommen.
Vom C-Dur-Präludium an macht Hewitt auf spannende Weise klar, wie dynamisch-prozesshaft sie die Stücke versteht. Man möchte schwärmen davon, wie sie die cis-Moll-Fuge in unerhörte Zäsuren, Steigerungen, wechselnde Klangflächen führt, ohne dass man es für gewaltsam oder manieriert hält; wie logisch phrasiert die Fuge in fis-Moll, wie empfindsam die in A-Dur hochgetürmt wird. Und wie Hewitt den Horror atemloser Modulationen in der e-Moll-Fuge zum Gedankendrama in Tönen baut. Alles Simultane schweißt sie zur Einheit.
Wenige sind so tief in Bachs Welt eingestiegen wie sie. Und wenige vermitteln darin so viel Selbständigkeit und Glücksgefühl.