Recital in the Lucerne Festival

2005-11-28 / Neue Zürcher Zeitung / Thomas Schacher

Eigenwillige Deutungen

Ein Tag am Lucerne Festival – Piano 2005

Das bereits zum achten Mal durchgeführte Klavierfestival bildet, zusammen mit den Osterfestspielen, eine der beiden kleineren Veranstaltungen des Lucerne Festival. Während die Festspiele im Sommer inzwischen mit über fünf Wochen Dauer und 73 Veranstaltungen ein gigantisches Ausmass angenommen haben, präsentierte sich das Klavierfestival in einem geradezu überschaubaren Rahmen. Im Hauptprogramm im Kultur- und Kongresszentrum Luzern reichten sich innerhalb einer Woche neun Pianisten der Weltklasse in acht Klavierrezitals und einem Sinfoniekonzert die Türklinken. Für welchen Namen sollte man sich da entscheiden? Für den hochvirtuosen russischen Pianisten Arcadi Volodos mit seinem vielversprechenden Liszt-Programm? Für den Avantgarde-Spezialisten Pierre-Laurent Aimard, der sich für einmal an Mozart heranwagte? Oder für einen Klassikerabend mit dem eigenwilligen Fazil Say? Die grösste Ausbeute versprach der Samstag mit gleich drei Rezitals: der hierzulande noch wenig bekannten Kanadierin Angela Hewitt mit Bachs «Goldberg-Variationen» auf einem modernen Flügel, dem sensiblen Mikhail Pletnev mit Mozart und Chopin und dem österreichischen Pianisten und Komponisten Thomas Larcher, der Schubert mit einem eigenen Werk kombinierte.

Eine radikal andere Welt

Zur Matinee um elf Uhr strömt ein soziologisch und altersmässig bunt gemischtes Publikum ins KKL. Der Barpianist im Foyer erinnert daran, dass parallel zu den Hauptveranstaltungen das «Piano Off-Stage» stattfindet, an dem elf Jazzpianisten in verschiedenen Luzerner Hotels und Bars aufspielen. Drinnen im Konzertsaal entführt einen dann Angela Hewitt in eine radikal andere Welt. Dass sie Bachs «Goldberg-Variationen», die für ein zweimanualiges Cembalo geschrieben sind, auf einem grossen Steinway spielt, daran nehmen vermutlich selbst Puristen nach kurzer Zeit keinen Anstoss mehr. Die Pianistin versucht gar nicht erst, den Klang des Cembalos zu imitieren, nein, sie setzt die klanglichen Möglichkeiten des modernen Flügels sehr bewusst ein. Sie schafft durch lautstärkemässige Unterschiede eine klare Hierarchie im Bachschen Stimmengeflecht, sie setzt Crescendo und Decrescendo als wirksame Hilfsmittel ein und sie verwendet, allerdings sehr diskret, das Haltetonpedal zur klanglichen Modifizierung. Vor allem aber erreicht sie in den dreissig Variationen eine hinreissende Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten, die vom zärtlichen Nachzeichnen bis zum temperamentvollen Ausbruch geht. Mit der Zugabe, einer Bearbeitung von «Jesus bleibet meine Freude», fasst Angela Hewitt ihren sehr persönlichen, eigenwilligen und doch unmittelbar ansprechenden Zugang zu Bach nochmals zusammen.

Klangliche Schattierungen

Das Hauptrezital am Abend zieht das traditionelle Konzertpublikum an. Als Magnet wirken der berühmte Pianist Mikhail Pletnev und ein populäres Programm. Pletnevs Deutungen sind nicht weniger eigenwillig als jene Hewitts. Für seinen Auftritt verwendet er nicht den Steinway, sondern einen Blüthner-Flügel, der weicher klingt und zarteste Abstufungen im leisen Bereich erlaubt. Mozarts Sonate in c-Moll KV 457 klingt auf diesem Instrument unter den Händen Pletnevs nicht, wie bei vielen Pianisten, wie ein Vorfahre Beethovens, sondern, was an sich auch möglich ist, wie ein Chopin des 18. Jahrhunderts. Doch den ersten Satz spielt der Pianist so leise, dass ihm beim Adagio praktisch keine Reduktionsmöglichkeiten mehr zur Verfügung stehen. Und beim Thema der A-Dur-Sonate KV 331 nimmt er jede Phrase auf den Schluss hin dynamisch und tempomässig derart zurück, dass das Resultat mit Mozart nicht mehr viel zu tun hat.

Bei Chopins 24 Préludes op. 28 findet dann der hypersensible Interpretationsstil Pletnevs seine Berechtigung. Die klanglichen Schattierungen, die er in den untersten Lautstärkeregionen aus seinem Flügel zaubert, sind unnachahmlich. Aber auch Chopin hat andere Seiten: Da findet sich beispielsweise «Agitato» und «Presto con fuoco», doch diese Forderungen des Komponisten löst Pletnev in seinem Spiel nicht ein.

Das Spätkonzert mit Thomas Larcher versammelt schliesslich ein kleines, an Querverbindungen interessiertes Publikum im Luzerner Saal. Denn Larcher stellt in seinen Programmen gerne Zeitgenössisches Traditionellem gegenüber und sucht nach den Wurzeln des einen im anderen. Hier kombiniert er vier Klavierstücke Schuberts mit einem Stück der Engländerin Rebecca Saunders und mit einer eigenen Komposition, die heute Abend beide uraufgeführt werden. Mit «Smart Dust» – der Name verweist auf elektronische Sensoren, die im Militär eingesetzt werden – bezieht sich Larcher nicht explizit auf Schubert. Doch indem er sein für präpariertes Klavier geschriebenes und sehr perkussiv klingendes Werk mit zwei Schubert-Kompositionen umgibt, erscheint es quasi als die Negativfolie derselben. In Rebecca Saunders «crimson», einem Stück, das vorwiegend Clusters in hohen Lagen einsetzt, kann man als Hörer am Schluss tatsächlich so etwas wie die Sehnsucht nach der Schubertschen Lyrik heraushören. Ihre Verwirklichung folgt dann im Klavierstück in Es-Dur (D 946/2).