2009-04-03 / Süddeutsche Zeitung / Wolfgang Schreiber
Große innere Welt
Von Bach bis Ravel: Angela Hewitt erstaunt einmal mehr in München
Diese Verbindung von hoheitsvollem Blick und beflügeltem Schritt aufs Podium, aus Entschlossenheit und Lebensfreude durch die konstante Arbeit an der klassischen Musik, das scheint für diese große und großgewachsene Dame charakteristisch zu sein. Da war er also wieder, wie vor einem Jahr im Münchner Herkulessaal: der gebieterische Elan des Klavierspiels von Angela Hewitt. Die Kanadierin, Jahrgang 1958, hatte 2008, auf ihrer wundersamen Bach World Tour, alle 48 Präludien und Fugen beider Bände des Wohltemperierten Klaviers einer so planvollen wie euphorischen Prüfung und Darlegung, das heißt Strukturierung, unterzogen und sich dabei mit herbem Ernst und feuriger Phantasie eine grandiose innere Welt aufgebaut, ein Kompendium des musikalischen Denkens. Nun also wiederum Bach, ihr Zentralheiliger, doch danach eine Beethoven-Sonate, schließlich Stücke der beiden Franzosen François Couperin und Maurice Ravel.
Bach, ihr Experimentierfeld für Kreativität und Ideenreichtum! Gerade hat der Finne Olli Mustonen an derselben Stelle die erste Bach-Partita atemberaubend zerlegt und rauschhaft wieder zusammengebaut, da spielt Angela Hewitt Bachs Englische Suite Nr.6 in d-Moll in ganz anderer Prozedur. Vom Präludium an ist das für sie hochfahrende, keinesfalls exzentrische musikalische Arbeit – mit Hilfe aller Kombinationskünste der Polyphonie, in Linienspiel und Verzierungsübermut. In den Tanzsätzen der Suite zeigt sie, in spontan scheinender, doch überaus kunstvoll abgezirkelter Manier, wie frei sich jemand in der barocken Welt bewegen darf, wenn er es denn so kann wie diese Künstlerin. Ihre Energie im virtuosen Passagenspiel, in der rhythmischen Inspiration, der Akzentverteilung ist enorm, und die heikle Kunst des Rubato, der kleinen Verzögerungen und Beschleunigungen, der Binnenzäsuren, beherrscht Angela Hewitt in Vollendung.
Beethovens kleinere frühe Sonate in F-Dur Op.10 Nr.2, eines seiner strahlendsten Klavierwerke, wird für Hewitt zum Erprobungsfeld erhellender Analyse. Sie hört im Allegro-Kopfsatz ein quasi-improvisatorisches Bauprinzip heraus, zeigt dabei so deutlich wie selten vernommen, nach welcher Art Beethoven in Gestalt und Bewegung kontroverse Motivteile reiht, staucht, steigert, sich aneinander abarbeiten lässt – und nur damit die nötigen Spannungen erzeugt. Hewitts an Bach erprobter siebenter Sinn für die Triebhaftigkeit von Tonartenwanderung kommt ihrem Beethovenspiel nur zugute. Endlich Beethovens berüchtigt raubeiniger Polterwitz: hier durch ein rasches Final-Fugato der quirligen Repetitionen, von Hewitt perfekt – und nicht allzu hastig – in Szene gesetzt.
Phantasie und Einfall
Was François Couperin, Meister der kleinen Form in der barocken Tastenkunst Frankreichs, über den Interpretationsstil für seine Cembalomusik bemerkt, scheint Angela Hewitt, der Schülerin des Franzosen Jean-Paul Sevilla in Ottawa, in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Demnach wären Couperins Präludien Stücke, bei denen die Phantasie allen ihren Einfällen nachgibt”. Man finde, meinte er, “ziemlich selten Genies, die fähig sind, im Augenblick vollendet zu gestalten” . . . Acht von Couperins “Pièces de Clavecine”, von denen der Musiker am Hofe Ludwigs XIV. rund 250 geschrieben hat, wählte Hewitt aus, lauter Stücke aus dem sechsten der so genannten “Ordre”. Ihre Fähigkeit, die Preziosen durch den Reichtum der Ornamentik, die nie Nebensache ist, mit Substanz zu füllen, scheint grenzenlos zu sein. Gefühle werden abgefeimt gespiegelt oder gebrochen, Kunstschönheit triumphiert rein durch herbeigeführte Artifizialität.
Vollends offenbart diese Künstlerin in den sechs Sätzen von Ravels “Tombeau de Couperin” zugleich ihre Macht, komplexe musikalische Strukturen in langen Bögen zu denken. Brillanz als Innenbezüglichkeit. Wäre aber hier, bei aller blendenden Klangfarbdramaturgie und Bewegungsenergie, ein Zuwachs noch an Atem, an Transparenz möglich gewesen? Ja, durch größere Langsamkeit und Zeitdehnung. Ravels Pavane und das großartig sinnende Adagio aus Haydns später Es-Dur-Sonate sind Dank für Ovationen: Belege für Hewitts überragendes Musikertum.”