2008-12-04 / Berliner Zeitung / Peter Uehling
Die Musik durchschauen
Struktur und Poesie: Angela Hewitt begeisterte im Kammermusiksaal
(English translation below)
In einer Zeit, in der jeder Musiker, um sich auf dem Markt von den anderen zu unterscheiden, eine Masche finden muss, sind Erscheinungen wie die Pianistin Angela Hewitt selten geworden. Verschreiben sich die einen der Virtuosität, die anderen der Struktur, wieder andere der Sonate, noch andere einfach nur Bach oder Beethoven, und ganz andere dem Verrückt- oder dem Traditionell-Sein, so macht Hewitt auf eine umwerfend reiche Art Musik, sei sie virtuos, strukturiert, Sonate, Bach oder Beethoven. Und zu allem Überfluss legt sie dabei auch noch eine unverwechselbare Spielpersönlichkeit an den Tag. Der Kammermusiksaal der Philharmonie war am Dienstag nicht voll, Angela Hewitt hat zweifellos noch nicht den Ruf, den sie verdient, aber das Publikum war ein entflammbares und kompetent begeistertes.
Der Reichtum ihres Spiels liegt im vollkommenen Ineinanderaufgehen von Struktur, Klang und Poesie, alles stützt und erklärt und verstärkt sich gegenseitig, wird im Grunde ununterscheidbar. Schon das den Abend eröffnende Prélude der 6. Englischen Suite von Bach wird zu einem Ereignis: Wer bietet denn heute so vielfältige Perspektiven auf den polyphonen Satz an, vom vitalen Durch-die-Stimmen-Springen der motivischen Impulse bis zur harmonischen Flächigkeit der Zwischenspiele?
Dieser Bach hat nichts Didaktisches, die Allemande ist traumverloren, die Gavotte neckisch, die Gigue ein Pandämonium des wirbelnden Klangs. Dennoch wird dem Hörer nicht ein billiges Identifikationsangebot in Form genießbarer Charakterstücke gemacht, er muss die Musik durchhören, ihre harmonischen Finessen durchschauen, Hewitt zwingt ihn auf charmanteste Weise dazu. Den ersten Satz aus Beethovens F-Dur-Sonate op. 10,2 legt sie mehrschichtig an, zeigt eindrucksvoll, wie die Musik über die anfänglichen Pausen hinweg zusammenwächst, aber auch wie die Klänge auseinanderdriften: Die Hände sind am Ende der Durchführung in die Randlagen des Instruments gerutscht; wenn die Reprise dann mit dichten Akkorden der Mittellage einsetzt, ist das auch ein klangliches Ereignis.
Noch Klischees heutigen Interpretierens erhalten bei Hewitt ihren besonderen Sinn. Zur Mode ist es etwa geworden, in Wiederholungen die klanglichen Gewichte anders zu verteilen. Im Menuet von Ravels Klaviersuite Le Tombeau de Couperin” gibt es einen Mittelteil aus vollgriffigen Akkorden, die Hewitt zunächst vom oberen Rand führen lässt – bis das Stück auf einen katastrophischen Höhepunkt gelangt, der oft nicht seinem Gewicht gemäß gespielt wird, um die fragile Klangdisposition des Stücks nicht zu sprengen. Hewitt spielt diesen Höhepunkt mit aller Kraft als bedrohlichen Choral aus und gibt einen Hinweis darauf, dass das Stück bei aller kompositorischen Sublimation ein Reflex auf den ersten Weltkrieg ist. Wenn Hewitt nach diesem Zusammenbruch den unteren Rand der Akkordkette hervorhebt, bekommt die Musik sogleich einen noch düstereren Charakter – um dann mit einer nur größten Kunstwerken eigenen Magie, zurück zu springen in lichte Höhen.
English translation:
Seeing the music clearly
Structure and poetry: Angela Hewitt was inspiring in her recital at the Kammermusiksaal
At a time when every musician has to find his own idiosyncrasy to distinguish himself from all the others on the market, performances like that of Angela Hewitt have become rare. Some musicians concentrate on virtuosity, others on structure, some on sonatas, others simply on Bach or Beethoven, and others again on being either crazy or traditional. However, Hewitt simply makes music in a fantastically rich way, be it virtuoso, structural, sonata, Bach or Beethoven. And to all this abundance, she adds her distinctive pianistic personality. The chamber music hall in the Philharmonie wasn’t full on Tuesday, as Angela Hewitt undoubtedly does not yet have the reputation that she deserves, but she enthused and inflamed the audience who were there.
The richness of her playing lies in the complete merging of structure, tone and poetry; each supports, enlightens and strengthens the others, and becomes indistinguishable from them. Right from the start of the programme, the opening prelude to Bach’s 6 English Suites was an occasion: who else these days offers such varied perspectives on the polyphonic movement; from the momentum of the motifs energetically leaping through the different parts, through to the harmonic extensiveness of the interludes?
This Bach was not didactic: the Allemande was dreamy, the Gavotte was mischievous, and the Gigue was a pandemonium of pirouetting sound. And yet the listener was not offered an easy identification parade of enjoyable character pieces; you must hear through the music, understand its harmonic finesse, and Hewitt charmingly compelled you to do this. She spread out in front of you the many layers in the first movement of Beethoven’s sonata in F major Op.10.2, and demonstrated impressively how the music grows together out of the rests at the beginning, but also how the sounds drift apart from one another. Her hands had slid to extremes of the piano by the end of the development; when the reprise began with the thick chords in the middle of the range, this itself was a tonal statement.
Even the clichés heard in many of today’s performances found their true meaning in Hewitt’s hands. For example, it has become fashionable to weight the sound differently when playing a reprise. In the minuet of Ravel’s piano suite “Le Tombeau de Couperin”, there is a central passage of rich chords, which Hewitt played with the emphasis on the higher notes – until the piece reached a monstrous climax, which is not often played to its true weight, because the pianist does not want to destroy the fragile distribution of sound in the piece. Hewitt played this climax with all her might as a threatening chorale, and so alluded to the fact that the piece was a reflection through the composer’s eye of the First World War. When Hewitt then brought out the lower notes of the chords after this breakdown, the music took on a more sombre character – only to leap back into the bright heights by an even greater magical work of art.”