2008-03-15 / Neue Zürcher Zeitung / R. Peter Hagmann
Im Fugenkosmos
Bachs «Wohltemperiertes Klavier» mit Angela Hewitt in Zürich
Ein Griff nach den Sternen ist es in jedem Fall – darum wagt es kaum jemand. In der Tat, wie oft war «Das Wohltemperierte Klavier» von Johann Sebastian Bach in der jüngeren Vergangenheit im Konzert zu hören? Wer unter den Pianisten von Rang und Namen hat die zweimal vierundzwanzig Präludien und Fugen, die in stetem Wechsel zwischen Dur und Moll die zwölf Tonarten des Quintenzirkels durchmessen, im Repertoire? Nicht nur fallen die Antworten hier rasch aus, es kommt dazu, dass mit den auf CD greifbaren Auslegungen von Friedrich Gulda (1972/73) und András Schiff (1986/87) Meilensteine im Weg liegen, an denen alles andere als einfach vorbeizukommen ist. Fast hat es den Anschein, als sei nicht nur das Werk, sondern auch seine Interpretation zu einem bestaunten, verehrten, im besten Fall vielleicht sogar geliebten Monument geworden.
Der dritte Weg
Angela Hewitt lässt sich dadurch nicht beirren. Seit langem widmet sich die kanadische Pianistin dem Œuvre Bachs (vgl. NZZ vom 7. 3. 08), «Das Wohltemperierte Klavier» hat sie in den Jahren 1997 bis 1999 für das britische Label Hyperion aufgenommen. Und nachdem sie nun an zwei grandiosen Abenden im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich die beiden Bände live gespielt hat, darf man feststellen, dass diese Musik doch weniger Denkmal ist als angenommen, dass sie vielmehr lebt und es mit ihr weitergeht. Denn Angela Hewitt hat sich ihren ganz eigenen Weg durch diesen gewaltigen Kosmos erschlossen. Jedenfalls war an den zwei anspruchsvollen (und darum wohl nicht ganz ausverkauften) Konzerten des Zürcher Meisterzyklus in aller Intensität zu erleben, wie unerhört phantasievoll Bach mit den Freiheiten des Präludiums und den strengen Vorgaben der Fuge umgeht.
Die Stücke sind in ihrem Charakter und ihrer klanglichen Ausprägung so unterschiedlich, dass man an verschiedene Formen des «Claviers» denken muss; und tatsächlich hat Daniel Chorzempa für seine Einspielung des «Wohltemperierten Klaviers» von 1982 und 1994 Clavichord, Cembalo, Orgel und Hammerflügel beigezogen. Angela Hewitt tut gerade das Gegenteil: Sie spielt Klavier und nichts als Klavier, das aber wie. Nach Massen reizt sie die Möglichkeiten ihres Fazioli aus, arbeitet sie mit Farbe und Volumen, schafft sie mit dem Pedal unterschiedliche Klangräume, hebt sie da einen Moment durch Arpeggieren oder Vorschlagen ans Licht und unterstreicht sie dort einen anderen durch das Oktavieren nach unten. In keinem Augenblick stellt sich freilich das Gefühl eines romantisierenden, den Ausdruck aufladenden Zugangs ein.
Denn so lustvoll Angela Hewitt Klavier spielt, so gebändigt und zielgerichtet nehmen sich ihre Ausdrucksmittel aus. Mit äusserster Sorgfalt sind die musikalischen Verläufe gestaltet, bewusst die Phrasen voneinander abgesetzt und klar die gebundenen und die gestossenen Noten voneinander unterschieden – ganz zu schweigen davon, dass der Umgang mit den Verzierungen und mit stilistischen Eigenheiten wie den doppelten Punktierungen von der Seriosität der Interpretin zeugt. Dazu kommt ein ausgeprägtes Denken in Stimmen, und zwar nicht nur bei den Fugen, bei denen das Geflecht recht eigentlich zu atmen beginnt und sich der Kenner von Umkehrung, Vergrösserung und Engführung überraschen lassen kann – nein, auch bei den Präludien, in denen selbst bei rauschendem Laufwerk immer wieder Einzelstimmen miteinander ins Gespräch kommen. Bisweilen nimmt das Präludium, etwa jenes in Es-Dur aus dem ersten Band, gar den Charakter einer Fuge an, während die Fuge wiederum mit temperamentvoll konzertierenden Passagen brilliert und so an das Präludium anschliesst.
Blick nach vorn, Blick zurück
Ganz ruhig, ohne jeden Drücker steigt Angela Hewitt mit dem berühmten C-Dur-Präludium aus dem ersten Band ein (das sie am zweiten Abend, nach der Fuge in h-Moll, als Zugabe nochmals spielen wird). Bald aber fällt auf, wie grosszügig sie das Tempo modifiziert, wie sie immer wieder innehält und Steigerungen zurücknimmt. Präludien wie jenes in cis-Moll oder jenes in b-Moll aus dem ersten Band werden da fast zu Préludes, und nach einer Weile wird deutlich, wie sie überhaupt diesen ersten Band – den Bach 1722, ein Jahr nach seiner zweiten Eheschliessung und kurz vor dem Wechsel ins Leipziger Kantorenamt, geschrieben hat – ins Licht der Empfindsamkeit stellt. Kontrapunkt und Chromatik, gern als altmodisch gesehen, enthüllen so mit einem Mal den Blick nach vorn, die Perspektive nach jenen anderen Ausdrucksbereichen hin, die sich dann erst Bachs Söhne ganz zu eigen machen werden.
Umso grösser die Überraschung beim zweiten Band, den Bach zwanzig Jahre später, als seiner Leipziger Verpflichtungen überdrüssiger Grossvirtuose, nachgereicht hat. Weitaus gewagter sind hier die harmonischen Experimente, sperriger die Themen und strenger die Formen. Angela Hewitt betont das, indem sie dem Notentext weniger vom Ausdruck als von der Struktur her begegnet: die Präludien im Zaum hält, die ausladenden vierstimmigen Fugen bisweilen fast orgelmächtig steigert und vor allem den immer und immer wieder auftauchenden Passus duriusculus, den für Trauer stehenden Abstieg in Halbtönen, hörbar werden lässt. Überaus eindrücklich das alles. Nach dem zweiten Abend anhaltender Stehapplaus. Er war fürwahr verdient.