Bach in Stuttgart

2008-08-28 / Esslinger Zeitung / Dietholf Zerweck

Wunderbar durchhörbar

Erster Abend von Angela Hewitts Bach-Marathon

Seit Angela Hewitt 1985 in Toronto den Bach-Piano-Wettbewerb zum Gedenken an Glenn Gould gewann, gilt sie als Bach-Interpretin von Rang. Dass die kanadische Pianistin, die zuerst in englischsprachigen Ländern und später in ihrer Wahlheimat Italien bekannt wurde, im Jahr 2005 eine Gesamtaufnahme der Bach-Klavierwerke vollendete, scheint diesen Ruf ebenso zu bestätigen wie ihre vor einem Jahr begonnene „Bach World Tour“. In ihrem Internet-Blog schrieb sie kürzlich, wie sie sich fühlte bei ihrem Konzert in der barocken Dornheimer Kirche in Thüringen, wo Johann Sebastian Bach mit 22 Jahren seine Cousine Maria Barbara heiratete: „Hier spürte ich den Geist von Bach, denn die Musik klang so natürlich und floss so leicht in dieser Atmosphäre.“

Mit den ersten zwölf Präludien und Fugen begann Angela Hewitt ihren viertägigen Zyklus des „Wohltemperierten Klaviers“ beim Europäischen Musikfest in Stuttgart. Der vergleichsweise nüchterne Ort des Mozartsaals der Liederhalle sorgte zunächst für eine etwas distanzierte Wiedergabe der ersten Stücke, die jedoch bald persönlichere Färbung annahm. Dem weichen, höfisch verspielten Cis-Dur-Präludium folgte die Fuge als virtuoses Glanzstück, in dem dennoch die drei Stimmen in plastischer Klarheit zum Ausdruck kamen. Das folgende cis-Moll-Präludium gestaltete Hewitt bis kurz vor Schluss fast monochrom, um dann jedoch wie zur Vorbereitung der folgenden fünfstimmigen Fuge das chromatische Gefüge dramatisch aufzureißen. Die tönende Architektur der hoch komplexen Fuge, in der sich polyphone Struktur und melodischer Fluss zu metaphysischer Ganzheit formen, war mächtig entfaltet.

Nach jeweils vier Präludien und Fugen setzte Angela Hewitt bei ihrem einstündigen Konzert eine Zäsur: sinnvoll und durchdacht wie die ganze Anlage ihrer Interpretation. Dem starken Kontrast von schlichter Verspieltheit und phantasievoll verschnörkelter Gravität der D-Dur-Stücke folgte eine d-Moll-Fuge, in welcher die dynamischen Differenzen der einzelnen Stimmen voll zum Klingen kamen. Wunderbar durchhörbar waren die folgenden Paare, wobei Hewitt durch fast unmerkliche Rubati die Themenfolge der es-Moll-Fuge besonders deutlich machte. Im letzten Drittel entdeckte die Pianistin eine neue Welt sprühender Heiterkeit, der in dem abschließenden Präludium und dem chromatischen Labyrinth der Fuge f-Moll ein extrem zerrissenes Lebensgefühl gegenübertrat. Hier war Angela Hewitt im Zentrum ihrer spirituellen Annäherung an Bach angekommen.

Heute und morgen folgen die beiden letzten Abende von Angela Hewitts wohltemperiertem Bach-Zyklus. Beginn ist jeweils um 20.30 Uhr im Mozartsaal der Liederhalle.